Unwirklich

Dass eine solch kleine Kugel eine solch große Auswirkung haben soll, ist einfach unvorstellbar. Trotzdem ist Kai davon überzeugt, dass wir mit den beiden davon schon so einiges erreichen können. Ich weiß nicht, inwiefern ich ihm glauben kann... und er sich.
Was wir mit den Kugeln vorhaben, ist keineswegs ehrenhaft... zumindest nicht nach der Definition, nach der es morgen in der Zeitung stehen wird...
Okay, die beiden Kügelchen werden auch in Kais stärksten Wunschdimensionen keine richtig große Explosion verursachen, dennoch kann auch ein kleines Loch Wege frei machen.

Eine Polizeistreife hat uns aufgegriffen. Wir waren von unserem Ziel noch weit entfernt. Kai konnte die Kugeln gerade noch verstecken. Nachdem der Verbleib unserer Eltern/Sorgeberechtigten abgefragt und bestätigt wurde, ist schnell klar, dass unsere Zeit auf den Straßen und in Freiheit vorerst unterbrochen ist.

Das Heim hat mehrere Etagen, integrierte Schule, getrennte Schlafräume, Gitter hinter den abschließbaren Fenstern, keine Ausgangszeiten, ein paar strenge Aufpasser und einen guten Ruf, fürsorglich zu sein.

Die andere Gruppe im gleichen Schlafraum betrachtet uns misstrauisch... klar, wir sind die Neuankömmlinge, vorrangiges Gesprächsthema der nächsten Tage. Kai ist sich schon sicher "hier bleiben wir nicht". Sicher genug zu mir, nicht sicher genug, es den anderen zu sagen. Misstrauen auch von unserer Seite. Smalltalk. Standardaktionen. Flucht wird nicht erwähnt. Besser, wir sind weg, bevor einer davon weiß. Würde natürlich für mehr Gespräch sorgen. Wichtiger als Gespräch wäre Kai sicherlich, dass wir wieder draußen wären.

Kai hat einen Plan. Zeigt auf das Kügelchen. "Nützt doch eh nichts, die für irgendwann zu behalten, wenn wir sie jetzt brauchen können." wirft es gegen die Wand. "Kai! Wir sind im dritten Geschoss".
ein Lichtblitz, ein Knall, ein wenig Putz bröckelt. Genug, um zu sehen, dass da jemand war, viel zu wenig, um ansatzweise als Weg in die Freiheit zu dienen. Der Knall war nicht leise, jemand wird über den Flur kommen. Ich verschwinde vorher. Kai bleibt, bewegt sich nicht, ich weiß nicht, was er denkt.

Vorm Gruppenraum bleibe ich stehen. Ich will nicht rein, bin zu aufgewühlt, wüsste nichts zu sagen. kehre um.

Im Raum mit Kai ist inzwischen noch ein Anderer, redet, fragt auf Kai ein. Es ist, als würde ich die Sprache nicht verstehen. Kai sagt nichts, antwortet nicht, schaut nicht auf, bewegt sich nicht.
Der Andere erblickt mich. Ich kenne ihn nicht, er kennt mich nicht, er kennt Kai nicht, er weiß nicht, was wir füreinander sind.
Er will, dass ich gehe. Draußen sehe ich einen seltsamen Lichtschalter, am Schild stehen neben einem hohen Knopf ein paar Wochentage, neben einem tiefen die anderen. Neben den Wochentagen stehen Uhrzeiten.

Ich drücke den Schalter rein. Im Raum wird es dunkel. und leise. Im Gang bleibt es hell. und leise.

Es ist so unwirklich, irreal... die groß angekündigte Explosionskugel, die nur klein verpuffte. der sonst große und laute Kai, zusammengekauert, unbewegt und still. Der Lichtschalter mit Wochentagen. So irreal wie das Mädchen, das es irgendwie geschafft hat, auch offiziell bei uns in der Gruppe zu sein. Das irgendwo in den Akten kein Mädchen ist. das nichts daran ändern will und überall als Junge durchgeht. das mich nicht nur nicht leiden kann, sondern auch irgendwie hasst. mit den tiefbraunen Augen.

Ich zwicke mich, kratze mich, wache nicht auf. es ist kein Traum.
Kai ist nicht mehr in der Gruppe. das zweite Kügelchen habe ich aus Kais Rucksack genommen.
Kais Rucksack wurde abgeholt, ich habe ihn nicht mehr gesehen, er ist nicht mehr in der Gruppe.
ich bin allein. mit der Gruppe. Smalltalk. Standardaktionen. Kai wird nicht erwähnt.

Wieso hat die Gruppe einen großen gemeinsamen Schlafraum, einen großen gemeinsamen Gruppenraum und einen großen gemeinsamen Essraum, aber einen kleinen Duschraum für nur 2 Personen?
Aufstehen, waschen, Schlafengehen nur in Etappen zu zwei Personen, wöchentlich neu ausgelost.

Ben und das Mädchen sind ein Pärchen.
Ben ist der große, schlanke mit den langen, schwarzen Haaren. Er hat seine Haare immer ein wenig länger als die anderen. Bis ein Aufseher ihn wieder zum Heimfriseur schickt.
Das Mädchen hat keinen Namen. Ich kenne ihn nicht, er wird nie genannt.

Sie sind ein Pärchen... Rumgeknutsche, Tuscheln, zwischendurch mal gemeinsam verschwinden. später dann gemeinsam zurückgebracht werden. getrennte Betten.
Ist Ben oder sie mächtig hier? beide haben kaum Probleme. Vielleicht kann einer von ihnen an die Akten gekommen sein.
Vielleicht kann einer von ihnen in die Freiheit helfen. Sie wollen nicht raus. Keiner aus der Gruppe will raus. Vielleicht muss man nur wollen.
Vielleicht kann einer von ihnen herausfinden, was mit Kai ist, wo er ist, warum er ist.
Vielleicht hat einer von ihnen auch exakt diese Aufgabe... den Aufpassern zu melden, wenn jemand Fragen stellt. Damit dieser jemand dann auch zu Kai kommt.
Ich traue mich nicht.

Überraschung bei der Auslosung. Das Mädchen und ich teilen uns einen Waschraum.
Ich weiß nicht, wie das passiert ist.
Ich weiß nicht, was ich dann machen soll.
Ich weiß nicht, wer sonst immer ausgelost wurde. Ich habe nicht darauf geachtet... Wurde sie überhaupt mitgelost?
Ich weiß noch immer nicht, warum sie mich hasst.

Ich weiß jetzt, was ich dann machen soll. Jeder duscht einzeln, in halber Zeit. Es geht. Ich drehe ihr den Rücken zu, schließe die Augen, probiere zu entspannen. Das Prasseln des Wasser wirkt einschläfernd. Sie sagt nichts.
Das Wasser wird abgestellt. Ich bin dran. Sie dreht mir den Rücken zu. Das Wasser ist nicht kalt auf der Haut. Wir verlassen zeitgleich den Duschraum, das ist Pflicht. sind pünktlich, die nächsten sind dran.

"Du hasst mich, oder?"
Ich glaube, zwischen dem Wasserprasseln ein "Ja" zu hören. Das reicht mir.
Es ist jetzt keine Vermutung mehr, sie hat es bestätigt...
Ich weiß nicht, ob ich heute genug Mut hatte, zu fragen... oder genug Furcht.
"Warum?" Ich horche in das Prasseln hinein, um ihre Antwort nicht zu verpassen.
Es dauert ein wenig. Sie hat heute schon mehr gesagt als sonst. Vielleicht reicht ihr das.
dann, fast noch leiser als vorher,
"Weil es einfacher ist."
Wechsel, Wasserprasseln, Stille.

"Einfacher? als was?"
Es wird Zeit, die Woche geht zu Ende. Eine Chance will ich noch nutzen.
Vielleicht erinnert sie sich nicht mehr, vielleicht will sie nicht antworten, vielleicht hat ihr das zu lange gedauert.
Im Prasseln keine Antwort, Wechsel, tiefbraune Augen.

ein Zettel unterm Kissen. Ich lese ihn, als keiner aus der Gruppe da ist, als kein Aufpasser da ist, ich mich allein glaube.
kleine Buchstaben: "Deine Art. Entweder muss ich Dich abgrundtief hassen. oder unglaublich lieben. Eines von beiden. nichts dazwischen. ich weiß nicht was.
lieben ist verletzlich, gefährlich. hassen ist einfacher.
"
Der Zettel ist mir wertvoll. Keiner darf ihn finden. Kein Aufpasser wegnehmen.
Ich zerreiße, Fetzen, Mülleimer.
Als sie wieder da ist, sehe ich sie an. tiefbraune Augen. keine Reaktion, schaut Ben an.

Ein Bild von Kai, war noch in meinem Rucksack, jetzt erst gefunden. unter dem Boden.
Das Bild ist leicht gilb, leicht angerissen, ich denke an ihn.
Weiß nicht, wo er ist, traue nicht zu fragen. Nicht Ben, nicht das Mädchen, nicht die Aufseher.
Finde das Kügelchen wieder. Habe Angst, es zu nutzen. Vielleicht hat nur das andere nicht funktioniert, vielleicht hat Kai sich ganz vertan.
Stecke das Kügelchen wieder weg. Weiß nicht, wie es funktioniert, will nichts falsch machen.
Lege mich hin, schließe die Augen, vergesse Kai wieder. verdränge Kai wieder.

Das Mädchen und Ben wurden zusammengelost. diese Woche. Zufall? Bei den beiden wundert mich nichts.

Sie überziehen am ersten Tag, Ben hat blaue Flecken, Ben ist ausgerutscht, gefallen.
Nichts ernstes.
Dann
kein Händchenhalten mehr, kein Rumgeknutsche mehr, kein Tuscheln mehr, Ben zieht zwischendurch mal alleine los, wird dann später alleine zurückgebracht. getrennte Betten.
Ich frage mich nach den Auswirkungen. Wer wird bleiben? wer ist hier mächtiger?
Das Mädchen bleibt in der Gruppe, Ben bleibt in der Gruppe.

Ich kratze, zwicke, erneut. wache nicht auf, muss ein Traum sein, ist kein Traum. irreal, unwirklich... die groß angekündigten Explosionskugeln, die eine klein, die andere nicht verpufft, der sonst laute und grosse Kai, nicht laut, nicht groß, nicht hier, unwirklichlich, unsichtbar, un-da. der Wochentagsraum, der duo-Duschraum, Ben, das Mädchen. das mich hasst. weil es einfacher ist. mit den tiefbraunen Augen.
Ich zwicke, kratze. erneut. wache nicht auf. wenn es ein Aufwachen gäbe, gäbe es ein Vor-Schlaf, wenn jetzt Irreal wäre, gäbe es ein Real. kann mich nicht erinnern, also nicht schlafen. also nicht träumen, also nicht aufwachen, will aufwachen
Alles ist irreal, unwirklich, alles wirkt unwirklich irreal.


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